01.-03.08.2019 - XXX. Wacken Open Air

On: 20/08/2019

Lieber Leser, 

unser Wackentagebuch versetzt uns jedes Jahr selbst in Verzückung, dutzende Mitleser, Bilderkommentatoren und Freunde werden bestätigen: Man möchte eigentlich mit uns in den Norden fahren, wenn es wieder heißt: Rain Or Shine. In diesem Jahr fahren wir ohne unsere Wacken-Clique auf das Festival ins idyllische Dorf in Schleswig-Holstein, haben sich doch die Familienplanung und andere Pflichten unseren Mitreisenden in den Weg geworfen. 

Nichtsdestoweniger aufgeregt sind wir, als wir zu zweit von Eckernförde schon montags gen Wacken fahren, erstmals mit Wohnmobil, autark bewaffnet mit Solaranlage, zwei Toilettenkassetten, 140 Liter Frischwasser und 80 Millionen Tonnen guter Laune. Als Frühanreisende bekommen wir einen tollen Platz in einer Wohnmobilburg von Wackenfreunden aus dem ganzen Bundesgebiet, die sich seit Jahren jährlich hier treffen und ihre Runde stetig erweitern. Wir finden hier schnell Anschluss, trinken das ein oder andere Likörchen zusammen und hauen uns gegenseitig die Taschen voll mit Geschichten aus den Festivalvorjahren. Toll, so kann die Wackenwoche starten. 

Am Dienstag checken wir das Gelände, es gibt keine Minimärkte mehr (nur noch Duschcamps) aber dafür einen großen Kaufland-Festivalmarkt mit allem, was das Festivalantenherz begehrt. Auch T-Shirts gibt es schon und so stehen wir 1,5 Stunden in brütender Hitze an für zwei Nickies mit 2021er Print. Nungut wir wollen uns ja nicht beschweren, die Gummistiefel dürfen in diesem Jahr gern in ihrem Schrank bleiben. Allerhand Essensstände von günstig bis exklusiv, mittelalterlicher Spiel und Spaß, Promotionaktionen (z.B. vom Campingwagenhersteller Hobby) und die Areas von Vereinen, Ausstellungen oder Austauschforen säumen das Festivalgelände. Diskutiert man auf der einen Seite über Gaming, geht es auf der anderen Seite um die Zukunft von Festivals im Rahmen von Umweltaspekten an sich. Wirbt man hier für handgemachte Holz-Skulpturen, geht es anderswo um DKMS und Knochenmarktypisierung. So ein Tag ohne Musik gewinnt auf dem Wacken an Input, schnell kann man Gleichgesinnte kennenlernen und auch Zeit totschlagen. 

Am Mittwoch zieht es uns zuerst vom Festivalgelände in Richtung Hauptstraße, wo wir unsere Lieblings-Dorfbewohner besuchen. Wir saugen das Flair ein, das rund um die hübschen, norddeutschen Häuschen Jahr für Jahr herrscht. Am Abend geht es dann ins Bullhead City-Zelt, es gibt endlich Musik auf großen Bühnen Wir sehen THE SWEET, Helfen meiner Jugend, und ich singe mit tausenden Menschen zu "Blockbuster" oder "Ballroom Blitz". Auch wenn The Sweet lang nicht mehr in Originalbesetzung sind fehlt es mir beim Liveerlebnis an nichts und auch die älteren Zuhörer nehmen uns fühlen sich in die goldenen Glamrock-Zeiten der 70er zurückversetzt. ROSE TATTOO entzücken danach nicht nur uns, sondern auch Jugendliche, Metalfans und die Generation 50 Plus. Fast schon schüchtern kommen "Angry" Anderson und seine Band auf die Bühne, knallen uns mit "Nice Boys (Don't Play Rock'n'Roll)", "Rock'n'Roll Outlaw oder "Rose Tattoo" großartige Rockklassiker um die Ohren und sehen nach dem Gig wohl so glücklich aus wie wir. Danach auf der Running Order stehen die SISTERS OF MERCY, ich bin nervös, die Band scheinbar auch. Von Fans nahezu hinter dem Vorhang vorgepfiffen präsentieren sie, im Nebel versunken, Goth Rock-Klassiker, während sich das Zelt vor ihnen leert. Ich tanze auf alte Zeiten zu leidenschaftslosen Sisters, ein Auftritt mit Kultcharakter war das jedoch leider nicht. Dann endlich, das Highlight für Wackenfans, MAMBO KURT! Oder auch nicht, denn ein Gewitter, Headliner eines jeden von uns besuchten Festivals, zieht auf. Das Bullhead City-Zelt wird evakuiert, wir trinken noch ein, zwei, zwölf Mexikaner vor unserem Wohnmobil und fallen dann ins Bett - auf dem Wacken muss man sich seine Kräfte wohlüberlegt einteilen.

Der Donnerstag beginnt, zur feierlichen Eröffnung des Infield, im Jägermeisterhirsch, besser gesagt in seinem Arsch, denn in dem Holzkonstrukt im Hirsch-Design sind auf drei Etagen Bars und Ausguck, Spaß und Schnaps. Ich begeistere mich sowohl für kalten Schnaps als auch für die patchbestickte Kutte die dieser Hirsch trägt, das ist tolles Marketing am Point Of Sales! Von hier aus hören wir das alljährliche Eröffnungskonzert von SKYLINE, die Band von Wacken-Macher Thomas Jensen mit den Gästen Gitarrist Gus G (u.A. Judas Priest) und Doro. BEYOND THE BLACK können uns nicht so richtig catchen und so shoppen wir über den Metal Markt, sehen dann KROKUS und tanzen später zu BOSS HOSS. Ob im Rodeostier in der Menge oder im Bällebad beim Stagediven, die Jungs sind gern hier und viele Wackenfans im Publikum sowie zahlreiche weibliche Konzertbesucher zeigen: Cowboys gehen immer! AIRBOURNE haben eine eigene Lemmy-Bar, quatschen aber unheimlich viel, spielen Trinkspiele mit ihren Fans und verteilen das braune Gold (Jack'n'Coke) - zu viel für meinen Geschmack, wollte ich doch weiter tanzen. Ob SABATON oder HELLHAMMER performed by Tom Warrior, ich komme nicht so recht in Fahrt im Laufe der Nacht und wir gehen zurück zum Camp. Hier sitzen wir also mit Freunden aus der Heimat bei Mexikaner und wollen in eine Runde Kniffel starten, als wir komische Töne aus dem Camp unweit entfernt der Wagenburg entnehmen. Rechtsrock, gruselige Teste und Menschen in Burzums-Shirts verderben uns nun endgültig die Laune. Spät in der Nacht melden wir das Camp patrouillierenden Sicherheitskräften, was dann folgt ist ein Schauspiel. Polizeibusse und Quads eilen innerhalb kürzester Zeit voran, nach dem Einsatzbefehl nehmen die Secus gemeinsam mit den Beamten das Camp auseinander, finden Hakenkreuz-Flaggen und andere verfassungsfeindliche Symbole inmitten von sächsischen Trabbifreunden fast in erster Linie zum Festivalgelände. Das dies so hier nicht herpasse bestätigen uns die  Einsatztruppen schnell, bedanken sich und lösen zu 10 Uhr am nächsten Morgen das Rechtsrockcamp auf. Bedröppelt fahren die Extremisten Freitagmorgen Heim, lassen nur eine Couch stehen und zeigen, wie schnell es geht, sein Festivalbändchen zu verlieren wenn man sich nicht an die Regeln hält und arrogant zur Schau stellt, was keiner auf einem Festival mit international herausragendem Ruf und Metalheads aus der ganzen Welt sehen will. Danke, liebes Wacken, das war ein toller Moment und rettete dann doch meine Stimmung!

Freitag gehen wir zu HAMFERD, einer Death Doom-Band von den Färör-Inseln, die färöisch singt, geprägt von der fast schon orchestralen, emotionalen Stimme von Sänger Jón Aldará. Es wird stressig heute, mit Gummistiefeln stapfen wir zu Bodycount den ersten Schlamm wieder glatt und genießen mit "Copkiller" oder "Manslaughter" Old School-Crossover. Wir sind quietschvergnügt bei ANTHRAX, die live immer wieder ein Genuss sind und bemerken eine Tina-Turnerisierung der Metal Szene, sehen wir nach Joey Belladonna Doro in ähnlichem Haarstyling. Wir sehen uns die wirklich großartigen PRONG an und THY ART IS MURDER, später am Abend genießen wir das Abschiedskonzert von SLAYER und wollen, nachdem wir die Kult-Band in den letzten Jahren auf der Bühne viel spielfreudiger und besser erlebt haben als früher, gar nicht, dass dies das letzte mal "Raining Blood" war. Es wirkt alles wie ein schönes Schauspiel, stille Worte weise gewählt zu kreischenden Gitarren und feinstem Thrash. War das wirklich das Ende? Ich mag und kann es nicht glauben. Zum Abschluss einen emotionalen Metal-Tages holen wir uns, was gestern nicht zu holen war: MAMBO KURT! Mit erfahrenen Schnapsgirls bewaffnet stellt sich Mambo Kurt einer bebenden Beergarden-Stage, wir bibbern in Nebel und wollen ins Bett Das war ein grandioser Wackentag, der Lust auf mehr macht!

Am Samstag starten wir mit Eierlikör und Mexikaner in den Tag, kommen auf touren, schauen uns MOLLLUST auf der Wackinger Stage in mittelalterlicher Atmosphäre an und gehen danach zu URIAH HEEP.  Auf der einen Seite ruhiger 70er Rock und eine schunkelnde Menge, auf der anderen Seite des Infield PROPHETS OF RAGE, die uns mit "Guerilla Radio" schlagartig aus dem Taumel erwecken - das ist Wacken! Tom Morello begeistert uns nachhaltig, wird live zum Biest und reißt uns mit sich. Ein schnelles "Ahhhhhahhhhaha" noch zu Lady In Black und Uriah Heep, dann ist der Nachmittag, an dem man sich gern zerteilt hätte, auch schon am Ende. Wir schauen uns den Vegan Black Metal Chef an, der im VIP-Bereich fröhlich kocht, gehen dann zu SEPTIC FLESH. Das war ein rundum gelungenes Menü, als Dessert gibt es Powerwolf und viel Spaß auf und vor der Bühne. Im Dunkel der Nacht stehen wir, dicht gedränt, in der Menge und erwarten PARKWAY DRIVE, die auf dem Wacken-Acker eine Live-Scheibe zu ihrer Viva The Underdogs-Tournee aufnehmen wollen. Mit Fackeln kommen sie, wie auch immer sie dorthin gekommen sind, von hinten, nähern sich vom FOH der Bühne, starten mit einem Feuerwerk und 85.000 Leute hüpfen. Irre! Ob nun ein Bassist im Rollstuhl auf der Bühne, Streicher auf schwebenden Podesten, ein rotierendes Drumset oder eine Bassistenmutter stagedivend vor der Bühne - wie kann man bitte Parkway drive live nicht lieben? Der Auftritt der Australier war perfekt, Sänger Winston McCall zeitweise zurecht sprachlos, die Menge vor der Bühne unbändig, die Songauswahl mit "Prey", "Carrion" oder "Wild Eyes" perfekt. Dieses Livealbum wird ein Meilenstein und zeigt, auch im Nachgang auf Film gebannt und frei über YouTube verfügbar, welche Kulisse das Wacken Bands aber auch Fans bieten kann. Danke! Wir könnten nun ins Bett gehen doch ein weiteres Highlight kündigt sich im Bullhead-Zelt an: FROG LEAP, der Pop-Klassiker in düstersten Death-Metal-Gewand verpackt. Wir gröhlen, tanzen, lachen uns kaputt, liegen Arm in Arm mit anderen Metalfans da und strahlen. dieses Festival fühlt sich an wie 10 Tage Urlaub, ist beseelend, gleichwohl körperlich herausfordernd und emotional.

 

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