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Interview: OBERER TOTPUNKT - "Geboren, um zu sterben"

On: 22/02/2012

Nach dem Album ist vor dem Album: gerade mal zwei Jahre nach der Veröffentlichung ihres vielbeachteten dritten Albums „Stiller Zoo“ werkelt die Hamburger Formation OBERER TOTPUNKT bereits fleißig am vierten Silberling.

Als Appetithappen gab es bereits kurz vor Weihnachten "Langfristig gesehen sind wir alle tot", mit "(Das ist nicht) Meine Welt" steht demnächst eine weitere Vorab-Veröffentlichung samt Video an. „Desiderat“, so der Titel des neuen Longplayers, wird sich voraussichtlich im Sommer/Herbst 2012 erst auf die Menschheit und die Tanzflächen der hiesigen Clubs, ab Juni dann auch ins neue Live-Set ergießen. Die Zutaten für ihr außergewöhnliches Gebräu: eine, wie sie selbst sagen, „energiegeladene Fusion aus Spoken-word, Dark Electronic, Industrial und Avantgarde“, gewürzt mit düsteren Texten über allerlei menschliche und gesellschaftliche Abgründe. Dass trotz aller Schwarzmalerei kein fahler Beigeschmack auf der Zunge zurückbleibt, verdanken OBERER TOTPUNKT ihrem eigenwilligen Gesamtkonzept, bei der Literatur und Musik zu einem ebenso hypnotisierenden wie tanzbaren Hörspiel verschmelzen. Was genau es mit diesem außergewöhnlichen Musikprojekt auf sich hat (und noch so einiges mehr), verrieten die beiden Masterminds Michael Krüger (Songwriting, Schlagzeug) und Bettina Bormann (Songwriting, Gesang) im Interview.

 

 

 

sP: Den Oberen Totpunkt kannten bis zur Veröffentlichung eures Debutalbums vor vier Jahren vermutlich nur Automechaniker und Technik-Begeisterte, in eurem Fall ist er Synonym für Grenzsituationen und namensgebend. Stellt sich natürlich die Frage, welche Grenzsituation zur Namensgebung/ Bandgründung führte.


Bettina: Tatsächlich war die Namensgebung keine so aufregende Angelegenheit. Der Terminus geisterte schon länger in meinem Kopf herum - und als die Band konkret wurde, war er einfach plötzlich da. Und das Bild ist ja auch überzeugend: Der Obere Totpunkt kennzeichnet den Punkt, an dem die Figuren entweder durchstarten oder scheitern. Es ist der Punkt, an dem für einen Moment alles offen ist.

Michael: Ich habe gerade mal „Oberer Totpunkt“ Bilder gegooglet. Mittlerweile findest du mehr OT-Fotos als technische Motorenmotive!
sP: Ihr seid musikalisch recht schwer einzuordnen, überschreitet gern Genregrenzen. Gibt es dennoch musikalische „Tabus“ – oder könnten theoretisch auch Elemente aus Schlager, Jazz o.ä. Einzug in eure Musik halten?

Michael: Meine musikalischen Wurzeln stammen aus der New-Wave-Ära, deshalb bin ich offen für unterschiedliche Stile. Ich bin kein Freund von Alben, bei denen alle Songs gleich klingen. Bei OT ist die Basis natürlich elektronisch – Minimal Electro. Aber völlig offen bin ich sicherlich nicht: Schlager ist für mich ein absolutes No-Go! Oder meinst du Gruftschlager wie Unheilig? „Wir sind geboren, um zu sterben“, wäre wahrscheinlich Bettinas Interpretation. (lacht)

 

sP: Im Song „Hamburg“ nennt ihr eure Wahlheimatstadt euren „Großstadtalptraum“. Wie sähe denn die Stadt aus, die euch ruhig schlafen ließe?


Bettina: Die kann es nicht geben. Das ist logisch ausgeschlossen. Jedenfalls so lange es Menschen gibt, und Macht und Machtgefälle und Ungerechtigkeiten und Selbstgerechtigkeit und Gleichgültigkeit und Gier und Kleingeist und Geltungssucht und Unaufrichtigkeit und Engstirnigkeit und und ...

Michael: Hamburg ist eine attraktive Stadt – und seit 1995 unsere Wahlheimat. Aber hier leben fast zwei Millionen Menschen. Hamburg wird häufig als schönste Stadt Deutschlands bezeichnet, was auch unstrittig ist, hat aber auch viele dunkle Facetten - gerade für die, die nicht auf der Gewinnerseite stehen. Und die zeigen wir als eine Art „Feature“, eine einseitige Darstellung. Musikalisch ist Hamburg ein Hort unzähliger Hamburger-Schule- und Indie-Bands, die alle irgendwie gleich klingen. Man findet auch immer wieder interessante, überraschende Bands – aber da muss man wirklich suchen.

sP: Ihr werdet häufig als „Hamburger Expressionisten“, eure Texte als „Expressionismus in Reinkultur“ bezeichnet. Versteht ihr euch selbst auch als eine Art Post-Expressionisten? Gibt es Lieblingsautoren/-texte und wenn ja, welche?

Bettina: Expressionistisch habe ich ehrlich gesagt noch nicht gehört, eher existentialistisch. Allerdings tue ich mich ein bisschen schwer mit Etiketten. Lieblingsautoren gibt es natürlich - Edgar Allan Poe, Oscar Wilde, Harlan Ellison, Robert Bloch, John Cheever, Richard Yates, um einige zu nennen.


sP: Nun hat der Expressionismus als Stilrichtung der Kunst ja leider nicht sehr lang „überlebt“. Wo seht ihr euch in 10, 15 Jahren?

Bettina: Wenn man einrechnet, dass die digitale Zeitrechnung erheblich schneller läuft, als wir es bislang gewohnt waren, dann müssten wir uns in einer Dekade wohl Lichtmeilen entfernt wähnen. Und wahrscheinlich wird es auch so sein. Aber vermutlich werden sich meine Texte immer um Fragen von Sinn, Sein und Tod drehen.
sP: Bettina, du bist für die Lyrics verantwortlich und recherchierst mitunter auch sehr intensiv für deine Texte. Was hast du als letztes gegooglet?

Bettina: Über Lotusfüße in China, Beschneidung in Afrika, Witwenverbrennung in Indien, über Hexenverfolgung und Zwangsehe - Beispiele für strukturelle Gewalt gegen Frauen. Das hängt damit zusammen, dass ich derzeit für meinen neuen, geplanten Roman recherchiere, in dem es um das Thema Frauenhass gehen wird. Aber erst einmal freue ich mich auf die Veröffentlichung meines nächsten Buches unter dem Titel: „Das Flüstern der Mördermuscheln“, das im März beim Leipziger Verlag PaperOne erscheinen wird.

sP: Die Figuren in euren Geschichten sind ständig auf der Suche nach dem Glück – und stehen dabei ganz dicht am Abgrund. Glaubt ihr noch an die große Liebe, das Glück?

Michael: Also ich habe beides mit Bettina gefunden!

Bettina: Das hat nichts mit Glauben zu tun, sondern mit Wissen: Micha ist meine Liebe und mein Glück!


sP: Bettina hat in einem Interview mal erwähnt, dass sich eure Musik besonders intensiv beim Autofahren genießen lasse. Was hört ihr im Auto?

Michael: Wir haben in unserem Van einen CD-Wechsler für sechs CDs. Zuerst wollten wir unbedingt einen Anschluss für den iPod haben. Mittlerweile weiß ich die Reduktion zu schätzen, weil wir mal wieder CDs richtig durchhören können. Ich bekomme regelmäßig CDs von unseren Bandkollegen von unserem Label Danse Macabre. Die höre ich gern im Auto. Eine OT-CD ist natürlich immer dabei. Am längsten hat sich das grandiose Das Ich Album „Cabaret“ im Wechsler gehalten. Ansonsten auch immer gerne Radio "Radio Schwarze Welle". Konzerten, Festivals mit vielen unbekannten Bands finde ich auch immer spannend. Neben dem WGT und dem NCN bin ich vom Avantgarde-Festival begeistert. Da haben wir schon zweimal gespielt und viele ungewöhnliche Bands und Projekte erlebt. Initiator ist Jean-Hervé Peron von der Krautrocklegende Faust. Und die haben bereits in den 70ern für Furore gesorgt und nichts an ihrem revolutionärem Geist eingebüßt – im Gegenteil! Wir sind froh, dass wir uns kennen und dass es noch wahnsinnig viel abseits des Mainstreams zu entdecken gibt. Deshalb höre ich auch immer wieder Krautrock und experimentelle Sachen im Auto.


sP: Und im Tourbus?

Michael: Meistens spielen wir uns gegenseitig unsere neuesten Werke vor.

Bettina: Mich brauchst du nicht zu fragen, ich klinke mich aus und höre mir OT an, um Texte zu lernen.

sP: Auf eurem aktuellen Album „Stiller Zoo“ (VÖ: 2010) findet sich eine großartige Neuinterpretation des Fehlfarben-Klassikers „Paul ist tot“. Tatsächlich starb der gleichnamige WM-Orakelkrake einige Monate nach dem Release. Warum habt ihr euch also speziell für diesen Song entschieden?

Michael: Eigentlich wollten wir „Gottseidank nicht in England“ (Bettinas und mein Lieblingssong von dem Album) nehmen. Aber „Paul ist tot“ passt einfach besser zu uns! Wir haben Sänger Peter Hein bei einer Lesung in Hamburg kennengelernt und ihn um Erlaubnis gefragt. Weiteres dazu gibt es auch in einem Interview von Tom Wendt (unser Mann für technische Umsetzung, Master, Mix) für Propellerhead Reason auf Youtube.

sP: Als Gastsänger konntet ihr unter anderem Bruno Kramm (Das Ich), Marianne Iser von Schneewittchen und Peter Hein von den Fehlfarben gewinnen. Werden Kollaborationen mit anderen Musikern auch zukünftig eine Rolle spielen? Mit wem würdet ihr gern mal zusammenarbeiten?

Michael: Ich hoffe, es kommt mal zu einer Zusammenarbeit mit Peter Heppner (Wolfsheim) und Stefan Ackermann (Das Ich). Aber es gibt viele interessante Stimmen und Sänger – wir werden sie finden.

sP: Der Song „Gefangen im Vergangenen“ ist einer der wohl pessimistischsten Songs des Albums: der Mensch als Hamster im ewig gleichen Laufrad, der seine Vergangenheit nicht abschütteln kann. Bleibt da überhaupt noch Raum für Zukunftsträume oder so etwas wie Hoffnung? Wenn ja, welche Träume wollt ihr 2012 verwirklichen?

Bettina: Die OT-Botschaft ist eigentlich einfach, sie lautet: Carpe Diem. Vergeude deine Zeit nicht. Vergeude dich nicht. „Langfristig gesehen sind wir alle tot“ - aber eben noch nicht jetzt! Ja, natürlich ist die Vergangenheit das, was uns ausmacht, aber wir werden jeden Tag neu geboren - alles ist eine Frage der Entscheidung. Mein persönlicher Traum für 2012 ist es, unsere vierte CD „Desiderat“ zu vollenden und meinen neuen Roman zu beginnen. Und dann spukt mir noch eine Idee für ein neues Hörbuch im Kopf herum...

Michael: Die Grundaussage von OT ist nicht negativ: Mach dein Ding und lass dich nicht von der Erwartungshaltung anderer Menschen kontrollieren!


sP: Ein schöneres Schlusswort hätten wir uns nicht wünschen können. Herzlichen Dank für das Interview!

(Das Interview führte Anja H.)

http:// www.totpunkt.com

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Jens Witt

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